Gerald Mandlbauer ist Chefkommentator der Oberösterreichischen Nachrichten und Mitglied der dortigen Chefredaktion.
Hört man sich unter VP-Funktionären um, erfährt man außerhalb des Wirtschaftsbundes ein Stimmungsbild, das zwischen stiller Resignation, Empörung und vollkommenem Unverständnis wechselt, während die offiziellen Vertreter sich Lage und Aussichten schönreden. Man brauche jetzt Klarheit, Stabilität und wirtschaftliche Reformen. So ähnlich äußerten sich in Oberösterreich Landeshauptmann und Kammerpräsidentin. Solche Durchhalteparolen stehen quer zum Meinungsbild, das sich bei Rundrufen zeigt. Gestandene Christlichsoziale wie die früheren Landesspitzen (voran Josef Pühringer) leiden bitterlich unter der Vorstellung, dass ihre Partei Kickl-Macher werden könnte.
Die Stimmung entspricht Nachwahlumfragen, wonach zwei Drittel der VP-Wähler Blau-Schwarz ablehnen bzw. Probleme damit haben. Traditionswähler fühlen sich verraten, Bürgermeister, Gemeinderäte und sonstige Funktionäre klopfen telefonisch an und sagen: „Wenn wir Kickl wählen, läuft das auf Selbstverstümmelung hinaus.“
Kickl will die Wirtschaft entlasten, aber …
Doch hinter allem steht auch die Frage, ob und wie man sich das überhaupt angesichts der Budgetlage leisten kann und ob jemand diese Effekte mit dem wirtschaftlichen Flurschaden gegengerechnet hat, den ein Kanzler Kickl international bedeuten würde. Kickl und Orban in Brüssel als Veto-Gesellen? Festung Österreich anstelle europäischer Zusammenarbeit? Kickl als Zerstörer des „tiefen Staates“, Kickl und seine alternativen Medien – die Vor-Aufklärung als neuer Standortfaktor und damit eine noch höhere Stufe der Empörungskultur in der Politik? Radikalisierung und Spaltung, all das steht im Raum. Diesmal meinen es die Freiheitlichen mit dem Umbau ernst.
Die Rolle Raiffeisens:
In der Ukraine halten Soldaten die Stellung, in Österreich träumt man wieder von billigem Gas. Raiffeisen ist für Blau-Schwarz, weil Raiffeisen International sein Geld aus Russland herausbekommen will. Dazu täte ein Schwenk ganz gut.
Was die FPÖ will:
Sie will den „tiefen Staat“ disruptiv beseitigen, also nicht Wandel durch Anerkennung des Erreichten, sondern durch dessen Zerstörung. Übersehen wird weiter, wie die FP sich schon zweimal ungeniert am „System“ bedient hat. Nun winken als Kanzlerpartei die deutlich größeren Möglichkeiten. Und bei allem Reformeifer, der mit Kickl aktuell verbunden wird, wird dieser am Ende immer umfallen zugunsten des nostalgisch-ängstlichen Milieus des kleinen Mannes.
Außerdem ist die VP heute nicht mehr die VP von früher. Sie hat keinen Wolfgang Schüssel und überhaupt ein Führungsproblem auf vielen Ebenen. Fraglich ist, wer es sich antut, in eine Regierung unter Kickl zu gehen. Und sind es dann solche Leute, die noch Statur genug haben, sich zu wehren, wenn es Richtung Umbau der Gesellschaft geht? Das nämlich hat Kickl vor, so viel ist gewiss, auch wenn er vorläufig Kreide schlucken wird. (OÖN)
Dazu passt auch dieser Absatz von Anneliese Rohrer:
Die Tatsache, dass sich jetzt niemand mehr darauf verlassen kann, dass die ÖVP schon „dagegenhalten“ werde, ist ein viel größerer dauerhafter Schaden für das Land, als Kickl ihn in einer Legislaturperiode anrichten kann. Also muss die Zivilgesellschaft anfangen, ihn zu begrenzen. (Presse)
Hans Rauscher schreibt:
Kickl ist kein Hitler, wirklich nicht. Aber es genügt, was er ist: ein vor innerem Ressentiment bebender autoritärer Typ, der Österreich in ein autoritäres System umbauen möchte (er verwendet dabei unentwegt Hitlers Vokabular: "Systemparteien", "internationale Cliquen", "Volksverräter").
In der ÖVP gibt es etliche, die eine Koalition mit einem Kickl, noch dazu als Juniorpartner, für den Untergang der Volkspartei halten. In VP-nahen Wirtschaftskreisen sieht man einerseits die Ähnlichkeit der Wirtschaftsprogramme von ÖVP und FPÖ, andererseits gibt es gewichtige Stimmen, die keine autoritäre "Dritte Republik" wollen; manche weisen auf die "Kleine Mann"-Ideologie von Kickl hin: "Er ist ein nationaler Sozialist." Immer mehr scheint auch Wirtschaftsbossen zu dämmern, dass Kickl wirklich die EU sabotieren will. Und schließlich hat auch die harte Unterwerfungsansage von Kickl an die ÖVP manche verstört. (Standard)
Mandlbauer, Rohrer, Rauscher: Alle drei sind übrigens Bürgerliche.
Zur aktuellen Lage empfehle ich noch diese Diskussion auf ServusTV und diese Ausgabe des ARD-Presseclubs.
Der Standard hat die Koalitionsverhandlungen aufgerollt. Es scheint eine Mischung aus schlechten Prozessen, mieser Kommunikation, Missverständnisen, mangelndem Vertrauen, starrer SPÖ, Industrielobbys und Raiffeisen innerhalb der ÖVP und naiven Neos gewesen zu sein, die sich dachten, Schwarzrot werde das schon machen.
Für alle mit Abo ist auch die Aufarbeitung im Falter sehr empfehlenswert.
Wichtig bleibt: Den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Option und zum Verzweifeln bleibt keine Zeit. Zuversicht ist das Motto der Stunde:
Kickl, Trump & Co: Wie wir uns jetzt Mut machen und zuversichtlich sein können
Sagen wir einmal so: 2025 hat für Politikinteressierte etwas holprig begonnen.
👍🏻 danke