Die FAZ hat Gustav Gressel interviewt:
Könnte eine mögliche Waffenruhe in der Ukraine halten oder gar zu einem Frieden werden, wie es Trump vorzuschweben scheint?
Ich halte das für ungefähr so wahrscheinlich wie einen Sechser im Lotto. Russland hat sich an keinen Waffenstillstand gehalten, der in den letzten elf Jahren dieses Krieges ausgehandelt wurde. Die russischen Ziele, die Ukraine als Ganzes zu unterwerfen, sind nach wie vor da, ebenso die russischen Maximalforderungen. Sie gehen über die Ukraine hinaus: Moskau will eine europäische Ordnung nach eigenem Wunschdenken errichten. All das hat Russland zurzeit militärisch noch nicht erreicht. Aber mit dem Wegfall der USA als Unterstützer der Ukraine ist das sehr gut möglich. Putin hat jetzt die Chance, mit einem extrem schwachen amerikanischen Präsidenten vollendete Tatsachen zu schaffen. Damit stellt sich für ihn die Frage: Soll er abwarten, bis es wieder einen zurechnungsfähigen amerikanischen Präsidenten gibt? Bis die Europäer mit ihren Nachrüstungsbemühungen Erfolge haben, sich besser verteidigen und der Ukraine Nachschub liefern können? Das macht aus russischer Sicht keinen Sinn: Zielführend wäre ein möglichst schnelles und möglichst hartes Zuschlagen. Und ich glaube nicht, dass Putin hier noch einen großen Ruf zu verlieren hat.
Verschiedene westliche Geheimdienste haben Zeitfenster angegeben, in denen Russland ein NATO-Land angreifen könnte. Da geht es um Jahre. Sind diese Zeitfenster angesichts der Annäherung zwischen Putin und Trump noch aktuell?
Ich fürchte, diese Zeitfenster müssen wir alle nach unten korrigieren, denn sie beruhen auf verschiedenen Annahmen, die überholt sind. Eine davon war, dass eine Wiederaufrüstung Russlands nach einer Unterwerfung der Ukraine teurer werden würde, weil sie mühsam niedergerungen werden müsste. Das könnte es jetzt billiger geben, wenn die Ukraine aufgrund von Nachschubmangel und ausbleibender Militärhilfe unter die Räder kommen sollte. Auch die Annahme, für einen russischen Angriff bedürfe es einer chinesischen Provokation, die Amerika in Beschlag nehme, erübrigt sich, wenn Trump unilateral aus Europa abzieht. In dem Sinne könnte der Fortsetzungskrieg, der sich gegen die Ukraine wenden wird, sehr schnell übergehen in einen großen Krieg um die militärische Vorherrschaft in Europa.
Wie schnell könnte Putin denn Ihrer Ansicht nach den NATO-Bündnisfall testen?
Das kommt darauf an, wie schnell die Amerikaner die Ukraine fallen lassen. Die amerikanischen Prognosen gehen davon aus, dass die Ukraine sechs Monate ohne amerikanische Hilfe überleben kann. Ich würde diese Prognose nach oben korrigieren: Die Ukraine könnte wahrscheinlich ein Jahr durchhalten. Dann wird es aber schwierig. Ein weiteres Jahr bräuchte Russland wohl, um die Ukraine ethnisch zu säubern. Dann würde man mit der Armee, die schon in der Ukraine steht, weitermarschieren, auch unter Einbeziehung von chinesischen Rüstungslieferungen, die nach einem Ende der amerikanischen Sanktionen wahrscheinlich in relativ großem Umfang in Russland eintreffen werden.
Was können die Europäer in dieser Lage tun?
Aufrüsten, für die Ukraine und für uns. Die Ukraine ist der zentrale Stolperstein für Russland, nicht über Europa herzufallen. Und wir müssen selbst aufrüsten, um einen Großkrieg durchhalten zu können. Außerdem sind wir jetzt in einer Situation, in der der amerikanische nukleare Schutzschirm nicht mehr glaubwürdig ist. Da müssen wir auch eine Gegenabschreckung gegen Russland mit europäischen Mitteln bewerkstelligen, also mit britischen und französischen. Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man die Lasten über die anderen europäischen Staaten verteilt. Denn nukleare Rüstung ist teuer, langfristig und langwierig, aber sie ist dringend notwendig. Denn diese Krise stellt alle anderen Krisen der NATO in ihrer gesamten Geschichte in den Schatten. Ob Suezkrise, Vietnam- oder Irakkrieg: Niemals hätte sich ein Staatsoberhaupt der NATO auf die Bühne gestellt und die Propaganda des Feindes übernommen. Was Trump jetzt macht, ist etwa so, wie wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder einst Osama Bin Ladins Anschuldigungen an die USA wiederholt hätte – und das hat Schröder bei allen Animositäten, die es damals gab, nicht getan. Jetzt liegt die Führungsmacht der NATO mit deren Feinden im Bett. Das gab es noch nie.