Erhöht Migration die Kriminalität?
Eine hoch interessante Literaturübersicht, kurz zusammengefasst.
tl;dr: Obwohl eigentlich vieles dafür sprechen würde erhöht Migration erstaunlicherweise nicht die Kriminalität. Unter dem Strich zeigen alle guten Studien, dass mehr Migration im Durchschnitt nicht zu mehr Kriminalität führt. Eine Ausnahme sind Asylwerber und irreguläre Migranten ohne Aufenthaltstitel, wie eine Studie aus Großbritannien nachweist.
Studie: Immigration and Crime: An International Perspective 📊
Peer reviewed ✅ im Journal of Economic Perspective (2024)
🧑 Olivier Marie (Professor of Labour Economics, Erasmus School of Economics, Rotterdam, Netherlands, 📈 1.702 Google Citations) & Paolo Pinotti (Professor of Economics and Endowed Chair in Economic Analysis of Crime in the Department of Social and Political Sciences at Bocconi University, 📈3.897 Google Citations)
Dass Migranten kriminell werden ist die mit Abstand größte Sorge vieler Menschen mit dem Thema. In Österreich sind zwei Drittel der Menschen darüber besorgt. Nur ein Drittel hat etwa Angst, dass Ausländer den Inländern die Jobs wegnehmen.
Die Migration ist in vielen westlichen Ländern zuletzt gestiegen. Und die Kriminalität? Ist gesunken. Schauen wir etwa auf die Mordrate.
Das ist nur ein erster Hinweis und Korrelation, keine Kausalität. Denn: Ausländer sind fast überall wahrscheinlicher im Gefängnis als Inländer. In Österreich machen Ausländer 20% der Bevölkerung aus aber 50%+ Prozent der Gefängnispopulation.
Woran liegt das?
Die Demografie von Ausländern ist ganz anders als die von Inländern. Junge Männer sind überrepräsentiert und aus der Forschung weiß man, dass Männer viel mehr Verbrechen begehen als Frauen und dass die Verbrechensrate am Ende der Jugend eines Menschen oder in den frühen 20ern peakt.
Außerdem sind Ausländer im Durchschnitt formell schlechter gebildet als Inländer. In der EU gelten 23 Prozent der Inländer als formell niedrig gebildet und 34 Prozent der Ausländer. Es gibt mittlerweile sehr gute, kausale Evidenz dafür, dass Bildung die Anfälligkeit für Kriminalität senkt.
Die Theorie
Schauen wir uns einmal die Beckersche Kosten-Nutzen-Kalkulation von Verbrechen an. Ein Verbrechen – etwa ein Diebstahl – hat einen potenziellen Nutzen, etwa einen Gewinn von 50.000 Euro. Aber mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit landet man auch im Gefängnis oder muss eine Strafe zahlen.
Je nach dem, ob man gute Jobchancen hat, ändert sich die Kalkulation. Denn jemand der die 50.000 Euro auch mit einem normalen Job verdient, wird das Risiko wohl viel seltener eingehen, weil er viel mehr zu verlieren hat.
Je schlechter also die Jobchancen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit in der Theorie von Becker, dass eine Person ein Verbrechen begeht.
Wer schlechter gebildet ist und weniger nützliche Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt hat, begeht im Schnitt eher ein Verbrechen. Auch wenn man die eigene Ausbildung – ob Studium oder Berufsausbildung – nicht angerechnet bekommt.
Jung + Mann + schlecht ausgebildet + kein/schlecht Zugang zu Arbeitsmarkt = höhere Anfälligkeit für Kriminalität
Es spricht also einiges dafür, dass Ausländer, die in dieses Schema passen, mehr Verbrechen begehen. Aber: Sie dürften auch höhere Kosten und Konsequenzen zu erwarten haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass man als Ausländer verhaftet wird, könnte höher sein als bei Inländern, die Strafen potenziell schärfer und im schlimmsten Fall könnte die Abschiebung drohen.
Empirie muss her
Was für uns aber interessant ist ist weniger die individuelle Verbrechensrate von Personen, sondern ob die Kriminalität in Summe durch Migration steigt. Da gibt die Theorie keine klare Vorhersage ab:
[A]s we move from the individual crime choice to local crime rates, the latter may depend on general equilibrium effects linked to congestion effects in labor markets and welfare (for example, how migrant inflows complement some native-born workers but substitute for others), interactions in crime, social multipliers, and so on. Given these issues, theoretical conclusions about the relationship between immigration and crime have an ambiguous sign, and the relationship is ultimately an empirical issue.
Die Empirie
Jetzt wird’s interessant.
Eine Vielzahl an Studien hat bisher keinen kausalen, pauschalen Effekt von Migration auf Kriminalität gefunden.
Hier braucht es sehr gute statistische Methoden, denn wenn Migranten in boomende Regionen ziehen, dann könnte das ihren Effekt auf die Kriminalität verstecken.
Diese Methoden gibt es aber und die besten Studien zeigen pauschal über alle Gruppen von Zuwanderern keinen kausalen Effekt. In den USA wurde zwischen 1979 und 1990 kein Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität gefunden.
Das stellte man auch für andere Länder fest, etwa für italienische Provinzen. Die meisten Studien beziehen sich auf die USA und Europa, aber auch eine gute Studie aus Chile, die sich auf die Zahl der Betroffenen bezieht, bestätigt diese Ergebnisse.
In der EU wurde das für 216 Regionen (NUTS2-Ebene) betrachtet. Führte der Anstieg der Migration zu mehr Morden oder Motorraddiebstählen? Beide sind verlässliche Indikatoren und über Länder hinweg sehr gut vergleichbar. Nein. Auch hier war wieder kein Zusammenhang von Migration und Kriminalität feststellbar.
Gehen wir noch tiefer
Zuwanderer sind eine sehr heterogene Gruppe. Darum lohnt es, nicht nur den pauschalen Effekt von Migration auf Kriminalität zu betrachten, sondern noch tiefer zu graben. In Großbritannien hat eine Studie die Ostöffnung 2004 genutzt. Damals durften Migranten von 8 EU-Ländern legal einwandern und ihr Geld verdienen.
Der Theorie nach sollte das die Wahrscheinlichkeit, dass sie kriminell werden, stark senken. Die Empirie bestätigt das. Ihr Effekt auf die Kriminalitätsrate war null. Bei Asylwerbern mit schlechterem Zugang zum Jobmarkt, die in vielen Fällen anders als die EU-Migranten keinen permanenten Aufenthalt bekommen, war das anders.
Die Autoren der Studie nutzten die quasi-zufällige Verteilung von Asylwerbern in Großbritannien und maßen den Anstieg der Kriminalität. Für ein Prozent mehr Asylwerber in einer Region stieg die Zahl der Eigentumsdelikte um 1,1 Prozent. Die Opportunitätskosten von Verbrechen sind bei Asylwerbern viel geringer.
Der Aufenthaltstitel
Wie wichtig der Aufenthaltstitel für den Effekt von Migration auf Kriminalität ist zeigen auch andere Studien. Wieder haben Forscher die EU-Erweiterung genutzt und dieses Mal den Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 studiert – und zwar im Zusammenhang mit Gefängnisinsassen.
Fünf Monate vorher gab es eine große Begnadigungswelle in Italien und die Autoren wollten wissen, ob rumänische oder bulgarische Ex-Insassen durch den Beitritt ihrer Heimatländer zur EU weniger rückfällig werden als andere freigelassene Häftlinge.
Die Theorie von Becker würde das vorhersagen, weil sie durch die EU-Erweiterung nun plötzlich legal in Italien arbeiten durften. Der Wert war erstaunlich: Bulgarische und rumänische Insassen waren um 50 Prozent weniger rückfällig als andere!
In Italien werden Arbeitsgenehmigungen für Migranten teilweise nach dem Prinzip “first come, first serve” vergeben. Eine andere Studie hat sich angeschaut, ob jene Ausländer, die einen Job bekamen, in den nächsten 12 Monaten weniger Verbrechen begingen. Wieder das Ergebnis: Ja und zwar ebenso um circa 50 Prozent!
Auch für die USA halten diese Ergebnisse: Eine Amnestie 1986 senkte die Zahl der Eigentumsdelikte in Counties, wo besonders viele irreguläre Migranten waren.
Und ein weiterer Hinweis für die Relevanz von Arbeit: Der Aufenthaltstitel hat in Italien nur im Norden einen senkenden Effekt auf Kriminalität. Denn nur dort entstehen dort tatsächlich bessere Arbeitsmarktchancen.
In Süditalien, wo sowieso sehr viele Jobs inofiziell vergeben werden, ist der positive Effekt durch den Aufenthalt sehr gering und die Kriminalität sinkt nicht.
Politisch macht es das kompliziert
Wer wenig Migration will und die Quoten niedrig ansetzt, bekommt einen höheren Anteil illegaler Migranten (weil keine Grenze unüberbrückbar ist).
Das erhöht die Kriminalität und sorgt erst recht für Probleme.
Was dann helfen würde wäre eine Amnestie. Alle dürfen da bleiben.
Sie würde die Kriminalität wieder senken. ABER:
Das schafft wieder den Anreiz für mehr Leute, illegal zu kommen.
Was wieder zu mehr Kriminalität führt usw.
Conclusio
Jetzt müssen wir also zwei Dinge im Kopf zusammen bekommen.
In fast allen Ländern – eine Ausnahme sind die USA – sitzen Ausländer überproportional oft im Gefängnis. Bestimmte Migranten, wie etwa junge Männer mit wenig Ausbildung und jene, die keinen fixen Aufenthaltstitel haben, werden im Durchschnitt deutlich häufiger kriminell.
Der Effekt von Migration auf Kriminalität ist aber trotzdem unter dem Strich null.
Was könnte die Erklärung sein?
Der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung ist zu gering, als dass das viel mit den Kriminalitätsstatistiken macht. Global sind 3,5 Prozent der Menschen Migranten, in Ländern mit hoher Migration sind es laut Studie 10-15 Prozent. (Anmerkung: In Österreich liegt der Wert bei 19 Prozent.)
Auch denkbar: Diskriminierung. Ausländer landen für dasselbe Verbrechen eher im Gefängnis als Inländer.
Oder: Ausländer verdrängen Inländer am “Markt für Verbrechen”.
Eine Laien-Ergänzung von mir: Viele Studien zeigen positive Effekte von Migration auf BIP, Löhne und Arbeitsmarkt. Letzterer ist kein Nullsummenspiel und Inländer finden mittelfristig oft bessere Jobs, wenn Ausländer in den Markt drängen. Das könnte in Summe die Kriminalität senken und den Anstieg wettmachen.
Noch interessant: Medien berichten überproportional über die Verbrechen von Ausländern. Während der Abstimmung über ein Minarettverbot in der Schweiz haben das Wissenschafter untersucht. Ihr Ergebnis: Ohne Medien-Bias hätten nur 54 statt 58 Prozent der Menschen für ein Minarettverbot gestimmt.