Die Ruhe vor dem Sturm: Wie K.I. die Welt auf den Kopf stellen könnte
Drei führende Forscher legen überzeugend dar, wie Künstliche Intelligenz die Welt so verändern wird wie einst die Elektrizität. Eine Besprechung.
Alle reden von Künstlicher Intelligenz. Wenn sie denn so revolutionär ist, warum ist ihr Einfluss auf Leben, Alltag und Wirtschaft bisher dann so gering?
Diese Frage beantworten die Forscher Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb in ihrem Buch Power and Prediction. The Disruptive Economics of Artificial Intelligence. Joshua Gans gehört zu den führenden Ökonomen zu K.I. auf der Welt.
tl;dr: K.I. ist revolutionär, aber technologische Revolutionen brauchen Zeit.
Zunächst: K.I. sucht für uns heute schon Musik aus (Spotify), schlägt vor, was für Filme & Videos wir mögen (Netflix & YouTube) und welche Produkte wir kaufen könnten (Amazon). TikTok weiß oft besser, was wir lustig finden, als wir selbst.
All das sind Prognosen. Amazon, Alphabet, ByteDance & Co verdienen mehr Geld, wenn sie besser prognostizieren, was wir mögen. Genau hier sieht das Buch die immense Veränderung durch K.I.: Bessere Prognosen & bessere Entscheidungen.
Betrugserkennung mit K.I.
Auch im Finanzwesen wird K.I. schon stark eingesetzt, etwa bei der Abwicklung von Transaktionen. Wenn jemand eine Kreditkarte nutzt, muss die Bank in kurzer Zeit feststellen, ob ein Betrug vorliegt und die Transaktion abgelehnt werden soll.
Der US-Konzern Verafin macht das mit K.I. hervorragend und wurde deshalb 2020 um knapp $3 Mrd. gekauft. Warum gelingt es in manchen Bereichen - wie beim Erkennen von Betrug im Finanzwesen - K.I. die Arbeit machen zu lassen und in anderen nicht?
Weil sich die Arbeit von Verafin dadurch nicht großartig änderte. Auch ohne K.I. hat eine Bank Regeln, um Transaktionen abzuwickeln. Hebt die Person plötzlich Geld in Nicaragua ab, obwohl sie am Vormittag noch wie sonst auch in Linz war?
Diese Regeln kann man durch bessere Prognosen von K.I. ersetzen. Das nennen die Autoren eine point solution. Anderes Beispiel: Ich recherchiere meine Texte jetzt auch mit ChatGPT. Ich mache alles wie immer, nur lasse ich mir von K.I. dabei helfen.
Transformationskraft wie Elektrizität
In den meisten Bereichen kann K.I. aber erst seine revolutionäre Wirkung entfalten, wenn sich ganze Systeme ändern. Genauso war es bei der Nutzung der Elektrizität, mit der die Forscher K.I. auf einer Ebene in ihrer Transformationskraft sehen.
1879 beleuchtete Thomas Edison erstmals eine Straße in Manhattan elektrisch. Die Technologie war da. 20 Jahre später nutzten nur 3 Prozent der Haushalte Strom. 40 Jahre später waren es schon 50 Prozent. Diese 40 Jahre sind “The Between Times”.
Die logischste Anwendung von Elektrizität waren etwa Glühbirnen statt Kerzen und Petroleum-Lampen. In Textilfabriken wurden neben den bisherigen, riesigen und umständlichen Dampfmaschinen einzelne elektrische Motoren verwendet.
Die große Transformation kam durch Elektrizität aber erst, in dem man nicht mehr point solutions einsetzte, sondern ganze Systeme änderte.
Es wurde also nicht mehr bloß ein Elektromotor in eine bestehende Fabrik gestellt. Sondern die ganze Organisation einer Fabrik wurde verändert. Früher wurden sie wegen der Dampfmaschine nach oben gebaut. Jetzt kamen flache Fabrikhallen.
Jemand der das geschickt nutzte und unsere Welt für immer veränderte war Henry Ford. Mit dem Fließband produzierte er plötzlich massenhaft Autos, die auch für die Mittelschicht leistbar wurden. Ohne Elektrizität wäre das unmöglich gewesen.
Disruption durch neue, kleine Unternehmen
Vor allem Unternehmen aus neu entstehenden Industrien wie dem Transportsektor, Tabak- und Metallfirmen und die Erzeuger von elektrischen Maschinen waren die Innovatoren, wenn es um das Design von Fabriken ging.
Wer seit Generationen seine Fabriken in die Höhe baut, braucht Zeit, um einzusehen, dass es jetzt flach eigentlich viel klüger wäre. Das passiert bei K.I. auch: Innovatoren sind Soziale Netzwerke, Streaming-Anbieter, der Online-Handel und Suchmaschinen.
K.I. wird in anderen Branchen heute großteils noch dafür verwendet, um Kerzen mit Glühbirnen zu ersetzen. In der Radiologie macht K.I. heute schon bessere Diagnosen als Mediziner. Trotzdem werden noch tausende Radiologen neu ausgebildet.
Warum machen das noch Menschen? Viele Sektoren sind zu komplex, um einzelne Prozesse von Mensch zu K.I. zu ersetzen. Ganze neue Systeme mit neuen Berufen müssen geschaffen werden. Wer haftet? Wie ändern sich die Anreize?
Wie lange treffen Landwirte noch Entscheidungen?
K.I. kann Dinge besser prognostizieren und besser entscheiden. Klingt nicht revolutionär, ist es aber. Nehmen wir die Landwirtschaft her. Die Mechanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg hat viele Arbeitskräfte mit Traktoren ersetzt.
Aber wann welche Pflanze angebaut, gedüngt und geerntet wird, entscheidet heute so wie damals der Landwirt. Er geht durchs Feld, schaut sich das Pflanzenwachstum an, die Wetter-Prognosen, die künftigen Preise für Getreide, Milch und Fleisch.
Im Prinzip ist das nichts anderes als eine Prognose: Wenn ich morgen ernte, dann optimiere ich den Nährstoffgehalt des Futters. Wenn ich etwas mehr dünge, steigere ich meine Erträge. Wie dicht kann ich unter gegebenen Bodenbedingungen säen?
Prognosen treffen kann K.I. besser als wir. Mit Bodenproben, Satellitenbildern, Kameraaufnahmen von Pflanzen lassen sich diese Entscheidungen besser treffen. Die Firma The Climate Corporation macht das schon. Monsanto kaufte sie um $1 Mrd.
Wir sind in den Between Times. 1879 beleuchtete Edison eine Straße in Manhattan. 1913 produzierte Ford Autos auf dem Fließband. 1920 nutzten 50% der US-Haushalte Strom. Wo stehen wir bei K.I.? Näher bei 1879 als bei 1920.
So könnte K.I. Branchen verändern
Auch im Schulsystem könnte K.I. völlig neue Dinge ermöglichen. Derzeit bekommen alle Kinder eines Jahrgangs denselben Unterricht. Ihr Alter ist eine grobe Information über ihren Wissens- und Entwicklungsstand, um sie zu kategorisieren.
K.I. könnte das aufbrechen und Lehrer:innen ermöglichen, den Fortschritt der Kinder massenhaft und individualisiert zu tracken - und ihnen dann mit Hilfe von K.I. genau die Unterlagen & Aufgaben zu geben, die auf sie zugeschnitten sind.
Die Taxibranche wurde durch K.I. schon auf den Kopf gestellt. Die Prognose für die beste Route trifft mit Google Maps eine K.I.; heute kann jeder mit dem Taxi fahren. Die Eintrittsbarriere verschwindet, außer man schützt sich vor Wettbewerb wie in 🇦🇹.
In der Wetterprognose wird K.I. heute als point solution eingesetzt. Man macht damit dasselbe wie immer, nur besser. Eine system solution könnte so aussehen: Jeder kriegt eine eigene Prognose aufs Handy, zum Beispiel für seinen Arbeitsweg.
Die Versicherungsbranche lebt von Prognosen. Wird eine Person krank oder einen Unfall haben? Heute wird K.I. dort als point solution eingesetzt, man macht dasselbe wie immer nur durch K.I. genauer. Wie könnte eine system solution aussehen?
Wenn Versicherungen durch K.I. so gut in der Prognose von Krankheiten werden, warum helfen sie uns dann nicht dabei, gesund zu bleiben? Der große Wert, der dabei entsteht, könnte unser Leben verbessern und enorme Profite ermöglichen.
Eine spannende Utopie in der Notfallmedizin: Smartwatches werden mit K.I. so gut darin, unseren Gesundheitszustand zu überwachen, dass wir viel seltener zur Ärztin oder ins Krankenhaus müssen. Die Uhr sagt uns: Du hast keinen Herzinfarkt.
Explodieren Innovationen durch K.I.?
Der größte Effekt von K.I. könnte aber ein Meta-Effekt sein, schreiben die drei. Nicht eine einzelne Innovation wie das Fließband, sondern dass Innovationen per se explodieren und noch ganz andere, heute unvorstellbare Dinge ermöglichen.
Innovationen laufen ja meist so ab: Man hat eine Hypothese, prüft sie, sind die Ergebnisse gut, baut man einen Piloten, wenn der auch funktioniert, skaliert man die Lösung hoch. Durch K.I. kann man die Prüfung von Hypothesen potenzieren.
Wenn man ein neues Segelmanöver probieren möchte, musste das ein Segler lange einfach selber tun. Er hat eine Idee, prüft sie, wenn sie funktioniert, probiert er es ein paar Mal und läuft es konstant gut, wird das Manöver eingelernt und verwendet.
Heute nutzen Profi-Segler bereits digitale Versionen ihrer Körper, um mit der Hilfe von K.I. Millionen Manöver zu simulieren und die besten dann selbst zu verwenden. So könnten Innovationen überall massiv beschleunigt und ausgebaut werden.
Wie geht es weiter?
Weil sich Systeme ändern müssen, damit K.I. seine Wirkung entfaltet, braucht es Zeit. Firmen, die etabliert sind und Profite machen, haben wenig Anreiz, Systeme neu zu denken. Das Risiko ist zu groß und die Organisationen sind zu träge dafür.
Das macht Disruption durch Außenseiter wahrscheinlich. Die Autoren erwarten, dass kleinere Unternehmen in kleineren Märkten experimentieren. Was funktioniert wird dann skaliert und etablierte Organisationen kollabieren. Wie bei der Elektritzität.
Ist das nicht eine Bubble?
Ja und nein. Nein, weil das Potenzial von K.I. tatsächlich enorm ist. Trotzdem werden jetzt auf den ersten Blick absurde Preise für Unternehmen bezahlt, die Innovationen mit K.I. umsetzen. Dafür gibt es aber eine ökonomisch einleuchtende Erklärung.
Die Bubble ist bei K.I. quasi inhärent: Es ist ein Winner takes most-Markt. Wer zuerst massenhaft selbstfahrende Autos auf die Straße bringt sammelt durch die Nutzer Daten, die die Autos besser machen. So hängt man die Konkurrenz dann ab.
Es gibt eine feedback loop. Früher Markeintritt = mehr Daten = bessere Prognosen = mehr Nutzer:innen = mehr Daten = bessere Prognosen und so weiter.
Google ist das beste Beispiel. Jedes Mal, wenn wir die Suchmaschine nutzen, füttern wie die K.I. mit Daten, die die Suchmaschine noch besser macht. Darum ist es etwa auch einem Konzern wie Microsoft nie gelungen, mit Bing Google einzuholen.
Was macht das mit unserer Arbeitswelt?
1960 brauchten nur 5 Prozent der Jobs in den USA decision-making skills. 2015 waren es schon 30 Prozent der Jobs, die meist besser bezahlt werden als andere.
Wer in seiner Arbeit also hauptsächlich Entscheidungen trifft, beispielsweise im Management, in der Medizin, im Finanzwesen oder in Unternehmensberatungen, der wird die Transformation durch K.I. an vorderster Front erleben.
Aber K.I. diskriminiert doch?
K.I. lernt von Menschen und imitiert unsere Biases. Das stimmt. Aber das lässt sich auch einfach testen und ändern. Man kann die Parameter der K.I. so lange anpassen, bis sie beispielsweise schwarze Menschen nicht mehr diskriminiert.
Eine Studie zeigt etwa, dass K.I. Knieprobleme bei schwarzen Menschen deutlich besser diagnostizierte als weiße Ärzte. Ärzte nahmen die Beschwerden der schwarzen Patienten weniger ernst. K.I. hatte diesen Bias nicht und diagnostizierte objektiv.
Auch Polizisten diskriminieren in den USA ja im Durchschnitt bekannterweise schwarze Menschen. Wir hätten schon heute die Technologie, um Strafzettel durch K.I. automatisiert zu vergeben. Das würde Diskriminierung senken.
Leute anstellen, Kredite vergeben, Versicherungsansprüche abklären, Gerichtsurteile treffen, über die Aufnahme an Unis entscheiden: Das ist alles mit K.I. möglich und man kann sie so bauen, dass sie dabei weniger diskriminiert als wir das tun.
Trifft die K.I. dann die Entscheidungen?
Nein, denn K.I. hat menschliche Urteilskraft eingebaut. Wenn Amazon theoretisch Mitarbeiter durch K.I. entlässt, hat vorher ein Mensch entschieden, dass wenn die Leistung unter X oder die Fehlstunden über Y liegen, die Person entlassen wird.
Um eine Entscheidung zu treffen braucht man Daten, Urteilskraft und Prognose. Die Kosten von Daten sinken durch K.I. drastisch und die Prognose kann die K.I. früher oder später quasi überall besser als Menschen. Bleibt uns die Urteilskraft.
Was heißt das? Nehmen wir an, Michael Jordan kommt aus einer Verletzungspause zurück. Ein Arzt sagt ihm, dass er noch nicht ganz fit ist und die Gefahr besteht, dass er sich beim Spiel verletzt und die restliche Saison verpasst.
K.I. kann künftig genauer prognostizieren, ob er sich verletzt als der Arzt alleine. Sie spuckt aus: Er verletzt sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent und verpasst die Saison. Ob Jordan aufläuft oder nicht entscheidet dann er selbst.
Conclusio
K.I. hat laut Agrawal, Gans und Goldfarb ähnliches Potenzial wie Elektrizität, um unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu verändern. Man stelle sich einmal die heutige Welt ohne Strom vor und man hat eine Idee von der Größenordnung, die kommt.
Bis sich solche Technologien durchsetzen braucht es Zeit. Schon heute verwenden Vorreiter K.I. im Streaming, E-Commerce und bei der Betrugserkennung. Damit sich der große Vorteil aber nutzen lässt, müssen oft ganz neue Systeme kreiert werden.
Wohin die Reise geht ist ungewiss. Keiner konnte sich die Welt ausmalen, in der wir heute leben, als Edison erstmals Elektrizität nutzte. In Power and Prediction legen die Autoren überzeugend dar, dass kaum ein Stein auf dem anderen bleiben wird.