Darf man noch an Fortschritt glauben?
Die linke Philosophin Rahel Jaeggi setzt zur Ehrenrettung des Fortschrittsbegriffs an. Eine Bücherrezension.
Was ist Fortschritt? Die einen verbinden mit dem Begriff die großen Errungenschaften der Moderne: Demokratie, Wohlstand, Wissenschaft, Medizin.
Für die anderen sieht die Fortschrittserzählung der jüngeren Geschichte über viele Schattenseiten hinweg: Kolonialismus, Ausbeutung, die Unterdrückung der Frau.
Gerade in akademischen Kreisen ist der Fortschrittsbegriff in Verruf geraten. Nicht zu Unrecht, wie die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi, eine der einflussreichsten linken Intellektuellen im deutschsprachigen Raum, feststellt.
In ihrem neuen Buch „Fortschritt und Regression" reitet nun aber ausgerechnet sie zu seiner Ehrenrettung aus.
Fortschritt, so ihre zentrale These, darf nicht als zielgerichtete Entwicklung hin zu einem vordefinierten Ziel verstanden werden. Etwa eine bestimmte Wirtschaftsleistung oder ein gewisses Bildungsniveau.
Stattdessen müssen wir Fortschritt, so Jaeggi, als ergebnisoffenen, nie abgeschlossenen Prozess der Problemlösung begreifen. Er ist kein erfolgreicher Aufstieg auf den Berggipfel, sondern ein nie endender Hürdenlauf. Das einzige Ziel: Es über die Hürden zu schaffen.
Gesellschaften haben als solche also kein Ziel, schreibt die Philosophin, sie lösen Probleme. Sie sind kein Mittel zum Zweck. Genauso wenig wie das Leben, das als Ganzes keinen Sinn habe, sondern der Sinn sei immer schon das Leben selbst.
Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, knüpft damit an ihre bisherigen Arbeiten zur Kritik von Lebensformen und Institutionen an. Zuletzt erschien von ihr „Kapitalismus: Ein Gespräch über Kritische Theorie" mit der US-Philosophin Nancy Fraser.
Auch in "Fortschritt und Regression" geht es ihr darum, philosophisches Nachdenken für die Bewertung aktueller Fragen nutzbar zu machen – was ihr beeindruckend gelingt.
Etwa beim neuen Nationalismus: Das Rückschrittliche an ihm sei die Verweigerung und Unfähigkeit, sich den Problemen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Statt die Probleme einer immer stärker verflochtenen Welt, wie nicht mehr an Nationalstaaten gebundene Konzerne, den Klimawandel oder globale Migrationsströme, mit neuen Institutionen zu lösen, greift man auf überholte Kleinstaaterei zurück.
Der Nationalstaat sei historisch ein Fortschritt gewesen, als er die Familiensippe als Organisationseinheit ablöste. Heute gäbe es aber gänzlich neue Herausforderungen.
Rückschrittlich ist im Sinne Jaeggis dann, dass eine Gesellschaft als Ganzes mit ihren sozialen Normen, überindividuellen Handlungsmustern und politischen Institutionen nicht mehr fähig ist, angemessen auf Probleme zu reagieren.
Erhellend sind auch Jaeggis Analysen zum Verhältnis von Fortschritt und Moral. Am Beispiel der Abschaffung der Sklaverei oder der Ächtung der Vergewaltigung in der Ehe zeichnet sie nach, wie sich moralische Normen in komplexer Wechselwirkung mit ökonomischen Verhältnissen, sozialen Praktiken und technischen Möglichkeiten verändern.
Moralischer Fortschritt ist für sie kein Prozess der reinen Einsicht. Er ist das Resultat sozialer Kämpfe, wirtschaftlicher Veränderungen und institutioneller Lernprozesse. Wer Veränderung vorantreiben möchte muss auf vielen Baustellen aktiv sein.
Die Stärken von "Fortschritt und Regression" sind die begriffliche Klarheit und analytische Präzision. Bisweilen verliert man sich als Nicht-Philosoph wie der Autor dieser Zeilen in den theoretischen Abhandlungen. Jaeggi kommt dem einfachen Leser aber dann immer rechtzeitig noch mit anschaulichen Beispielen zur Hilfe.
Für alle, die ihren Blick auf aktuelle Entwicklungen schärfen wollen, ist das Buch eine anspruchsvolle, aber lohnende Lektüre.