6 Jahre nach dem Ukraine-Krieg könnte Russland wieder kriegsfähig sein - DGAP
Ist Europa bis dahin nicht verteidigungsfähig könnte sich ein Zeitfenster für Russland ergeben, um z.B. das Baltikum anzugreifen, so ein Paper der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
“Den nächsten Krieg verhindern” heißt die Arbeit der DGAP, die ich hier kurz zusammenfasse.
Der Sukkus
Ist die intensive Phase des Ukraine-Kriegs beendet, könnte sich für Russland ein günstiges Zeitfenster ergeben. Das Land braucht nach Einschätzung von Christian Mölling und Torben Schütz 6-10 Jahre, um danach wieder kriegsfähig zu werden. Ist Europa dann (noch) nicht abwehrbereit, könnte das Russland animieren, mit Gewalt Gebiete im Baltikum oder Polen zu annektieren um sein “Großreich” auszubauen.
Ein günstiges Zeitfenster könnte es deshalb sein, weil Europa seine Fähigkeit, einen Angriff abzuwehren, nur langsam aufbaut. Falls Russland den Schritt tätigen wollen würde wäre der Anreiz groß, diese Jahre der relativen Schwäche zu nützen.
Um die Wahrscheinlichkeit stark zu verringern müsse der Westen Russland durch Aufrüstung klar machen, dass es keine Chance hätte. Dafür braucht der Westen drei Dinge: Kampfkraft, eine industrielle Basis und eine abwehrbereite Gesellschaft (Details dazu unten). Wenn Russland der Ansicht ist, dass Europa im Zweifel klein beigibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Krieg kommt.
Der Westen müsse mindestens ein Jahr vor der erneuten Kriegsfähigkeit Russlands eine glaubwürdige Abschreckung besitzen. Sonst könnte es zu spät sein und die Entscheidung und Vorbereitungen für einen Angriff bereits getätigt worden sein.
Klingt dystopisch, ist unwahrscheinlich, aber leider wohl nicht unwahrscheinlich genug, als dass wir uns darauf nicht unverzüglich vorbereiten müssen.
So steht es um Russlands Kräfte
Auch nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine ist die russische Kriegsfähigkeit größer, als es der momentane Eindruck vermittelt. Die größten Verluste an Personal und Material mussten die Landstreitkräfte hinnehmen; sie werden den Schwerpunkt der Rekonstitution bilden. Auch die Luftstreitkräfte haben qualifiziertes Personal verloren, verzeichneten aber nur geringe Materialverluste (etwa 10 bis 15 Prozent). Beide Teilstreitkräfte haben gleichzeitig ihre Anpassungsfähigkeit bewiesen. Die Marine hat empfindliche Verluste in der Schwarzmeerflotte hinnehmen müssen. Doch die baltische, pazifische und die Nordmeerflotte sind weiterhin einsatzbereit.
Russland kann pro Jahr mindestens 280.000 Rekruten ausbilden. In sechs Jahren sind das 1,7 Millionen und in zehn Jahren 2,8 Millionen militärisch geschulte Personen. Durch die Ausbildung in jenen Einheiten, die derzeit in der Ukraine kämpfen, werden sie von deren Kampferfahrung profitieren.
Was braucht ein Land, um abwehrfähig zu sein?
Kampfkraft: Grundlage dafür sind Organisation, Material und Personal der Streitkräfte.
Industrielle Basis: Stellt die Versorgung der Streitkräfte mit Rüstungsgütern, aber auch Dienstleistungen wie Reparaturen sicher. Im hochintensiven konventionellen Krieg übersteigt der Bedarf der Streitkräfte die Kapazität und Innovationsfähigkeit der Industrie in Friedenszeiten.
Resilienz: Die Bereitschaft und Fähigkeit einer Gesellschaft, einen Konflikt mit den Einschränkungen und Verlusten mitzutragen. Gesellschaftliche Resilienz – mental und physisch – ist unabdingbar, um Moral und Zusammenleben aufrechtzuerhalten. Dazu gehört die Sicherstellung von Infrastruktur (Verkehr, Energie, Digitales, Gesundheit), aber auch die öffentliche Demonstration des Glaubens an den Sinn und die Fähigkeit, den Konflikt durchzustehen.
Wie viel Zeit bleibt?
Experten und Geheimdienste schätzen, dass Russland sechs bis zehn Jahre brauchen wird, um seine Armee so weit wiederaufzubauen, dass es einen Angriff auf die NATO wagen könnte. Die Uhr beginnt zu laufen, sobald die intensiven Kampfhandlungen in der Ukraine zum Stillstand kommen. Dann kann Russland seine laufende Produktion umsteuern und für den Wieder- auf bau der Armee produzieren.
Auf Deutschland ist kein Verlass
Nach dem Schock, den Russlands erste Invasion der Ukraine 2014 auslöste, und den Neuplanungen von 2016 wollte die Bundeswehr ihre NATO-Ziele innerhalb von rund 15 Jahren – in den frühen 2030ern – erreichen. Jetzt ist die Hälfte dieses Zeitraums verstrichen, ohne dass eine substanzielle Verbesserung eingetreten ist. Die erste jener drei Divisionen, die für die neue Abschreckungsaufstellung vorgesehen sind, wird nicht wie geplant 2025 einsatzbereit sein. Ein ähnliches Schicksal droht der Division, die für 2027 geplant ist.
Aufrüstung braucht Zeit
Der Aufbau neuer Produktionsstraßen für Panzer oder Raketen braucht mindestens zwei Jahre. Deutschland sollte jetzt alles Material bestellen, das es zur Vollausstattung seiner Streitkräfte braucht, inklusive Reserven und Verbrauchsmaterialien wie zum Beispiel Munition oder Ersatzteilen. Das schafft Investitionssicherheit bei den Unternehmen und ermöglicht bessere Preise für die Bundeswehr. Die Industrie und vor allem ihre vielen Zulieferer brauchen solche Signale heute, wenn sie in zwei Jahren erheblich mehr produzieren sollen.