Warum Putins Imperialismus eine historisch neue Qualität hat
Nur mehr in der Geschichte hängen gebliebene Marxisten und russische und chinesische Propagandisten werfen dem Westen Imperialismus vor. Kolonialismus-Experte und Globalhistoriker Jürgen Osterhammel schreibt in der FAZ:
Das Debakel von Bushs Golfkrieg im Jahre 2003, Obamas misslungenes Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg 2011 und sein Nichteingreifen trotz Rote-Linien-Drohung in Syrien 2012, Trumps maulheldischer Isolationismus und Bidens Rückzug aus Afghanistan summieren sich zu einer Niedergangsgeschichte des Imperium Americanum. Der gefürchtete US-Imperialismus erweist sich in den Augen großer Teile der Welt als zahnloser Tiger. Unterdessen bieten die alten europäischen Imperialmächte ein noch kläglicheres Bild. Großbritannien musste ohnmächtig erleben, wie China schrittweise die langfristige Übergangsregelung für die frühere Kronkolonie Hongkong demontierte. Boris Johnsons „global Britain“ erwies sich als rhetorische Seifenblase. Frankreich verliert in unseren Tagen peu à peu seinen postimperialen Einfluss in Westafrika und der Sahelzone. Der westliche Imperialismus als furchteinflößendes Monster spukt nur noch durch russische und chinesische Propaganda.
Und dennoch ist der Imperialismus wieder da: in der weicheren Variante von Chinas geopolitischem Durchsetzungswillen im Indopazifik und seiner friedlichen Durchdringung der Ökonomien entlang der „Neuen Seidenstraße“ und in der Brutalversion des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Imperien seien historisch meist eher als Nebenprodukt entstanden, schreibt Osterhammel, wie etwa das britische Empire aus der “kumulativen Ausnutzung zahlloser lokaler Gelegenheiten”. Die Idee des Imperiums sei manchmal nur von wenigen Intellektuellen und Künstlern ernstgenommen worden. Sie hätten sich selten zu “obsessiv verfolgten Wahnsystemen erhitzt”:
Hitlers Vorstellung von deutscher Sklavenhalterherrschaft in einem „rassisch“ bereinigten Osten wäre die drastischste Ausnahme. In der machthabenden Gruppe um Putin scheint Ähnliches geschehen zu sein.
Was wäre, wenn andere Imperien im 20. Jahrhundert auf ihren Zerfall so reagiert hätten wie Russland heute?
Hätte Großbritannien sich verhalten wie Putin gegenüber der Ukraine, dann hätte es Anfang der Fünfzigerjahre (dreißig Jahre nach der Sezession des Irischen Freistaats) Dublin bombardiert; Japan hätte in den Siebzigerjahren Seoul angegriffen. Einige Kolonialmächte – Frankreich in Indochina bis 1954 und Algerien bis 1962, die Niederlande in Indonesien bis 1949 – haben sich dem Reichszerfall militärisch widersetzt, ihn jedoch bestenfalls um wenige Jahre aufhalten können.
Die Expansion Hitlers und Putins sieht Osterhammel als “wahngetriebe Imperialismen”, und die sind historisch …
… erst in Kriegen durch totale militärische Niederlagen, Debellatio, Besatzungsherrschaft und dauerhaften Regimewechsel zu einem Ende gekommen. […] In Deutschland, Japan und Italien vollzog sich unter den politischen Eliten wie in der großen Mehrheit der Bevölkerung eine Abkehr von wahnhaften Selbstverständlichkeiten. Es gab keine imperiale Nostalgie, die ein deutsch dominiertes Mittel- und Osteuropa, ein japanisches Korea oder ein italienisches Libyen wiedererrichten wollte. Alle drei Länder haben ohne Imperium und Phantomschmerzen prosperiert.
Ein historisches Novum ist nun, dass der wahngetriebene Imperialismus in Russland heute mit Atombomben ausgestattet ist.
Nuklearer Imperialismus ist ein Novum in der Geschichte der Imperialismen. Der Erfolg oder Misserfolg der klassischen Imperialmächte bewies sich „auf dem Schlachtfeld“. Am Anfang konnte ein Imperium sich durchsetzen, irgendwann fiel es dann der Übermacht imperialer Rivalen oder der Stärke einheimischer Widerstandsbewegungen zum Opfer. Die militärischen Gewichte veränderten sich, die stets „konventionelle“ Kräfteverhältnisse waren.