Ukraine-Russland: Warum scheiterten die Verhandlungen in Istanbul wirklich?
Warum sind die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 gescheitert?
Samuel Charap, Politikwissenschaftler bei der US-Denkfabrik RAND, und Sergey Radchenko, Professor an der Johns Hopkins University, haben nachgeforscht und in Foreign Affairs einen Text dazu geschrieben.
By the end of March 2022, a series of in-person meetings in Belarus and Turkey and virtual engagements over video conference had produced the so-called Istanbul Communiqué, which described a framework for a settlement. Ukrainian and Russian negotiators then began working on the text of a treaty, making substantial progress toward an agreement. But in May, the talks broke off. The war raged on and has since cost tens of thousands of lives on both sides.
What happened?
Es gäbe viele vermeintliche Erklärungen: Druck des Westens, Hybris in Kiew oder, dass es Russland gar nie ernst meinte. Monokausal sei es sicher nicht gewesen:
[S]uch monocausal accounts elide completely a fact that, in retrospect, seems extraordinary: in the midst of Moscow’s unprecedented aggression, the Russians and the Ukrainians almost finalized an agreement that would have ended the war and provided Ukraine with multilateral security guarantees, paving the way to its permanent neutrality and, down the road, its membership in the EU.
Für mich neu: Die beiden schreiben, dass es im Budapest Memorandum, in dem die Ukraine für die Abgabe seiner Atomwaffen in den 1990ern Sicherheitsgarantien von Russland, den USA und Großbritannien bekam, nie um Verteidigung im Falle eines Angriffs ging – sondern die Zusicherung, das man die Ukraine nicht angreife.
Dagegen hat Russland klarerweise verstoßen. Dieses Mal wollten die Ukrainer echte, handfeste Sicherheitsgarantien haben. Ende März ‘22 kam es in Istanbul dann zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen:
The treaty envisioned in the communiqué would proclaim Ukraine as a permanently neutral, nonnuclear state. Ukraine would renounce any intention to join military alliances or allow foreign military bases or troops on its soil. The communiqué listed as possible guarantors the permanent members of the UN Security Council (including Russia) along with Canada, Germany, Israel, Italy, Poland, and Turkey.
Die Ukraine sollte also neutral sein, also nicht der NATO beitreten, aber Russland stimmte zu, dass ein Beitritt zur EU offen stünde. Das überrascht doch.
Was passierte dann?
Dafür gibt es jetzt einige Erklärungen.
Russland zog sich von der Front im Norden komplett zurück. Kiew stand also nicht mehr in der direkten Gefahr, eingenommen zu werden. Das ließ die Zuversicht bei den Ukrainern steigen. Waren überhaupt Kompromisse notwendig?
Der Rückzug der Russen offenbarte Kriegsverbrechen, was den Willen in der ukrainischen Öffentlichkeit für Kompromisse schwächte. Weil aber wochenlang danach weiterverhandelt wurde, schreiben Charap und Radchenko, sei das wohl höchstens von sekundärer Relevanz für den Abbruch der Verhandlungen.
Von russischer Seite wurden einige Dinge in das Abkommen geschrieben, die für die Ukraine schwer zu verdauen gewesen wären. Da wäre einerseits, mit Verweis auf hanebüchene russische Vorwürfe, ein Verbot von Faschismus und Nazismus im Land.
Russland forderte auch eine Umschreibung der offiziellen Geschichte, was die UDSSR betrifft. So sollten ukrainische Krieger, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee kämpften, nicht mehr als Helden oder Freiheitskämpfer geführt werden.
Für diese Forderungen gibt es zwei Erklärungen: Entweder wollte Russland es den Ukrainern bewusst schwer machen, das Abkommen zu unterzeichnen. Oder es war der Versuch Russlands, das Gesicht Putins zu retten. So hätte er etwa behaupten können, sein Ziel der “Entnazifizierung” der Ukraine erreicht zu haben.
Charap und Radchenko zeigen auch auf, wie viel damals noch ungeklärt war: Man war etwa weit auseinander bei der maximalen Größe und Ausstattung des ukrainischen Militärs. Über Grenzen hatte man erst noch gar nicht gesprochen.
Das sollten Putin und Zelensky persönlich klären, denen man das Abkommen binnen zwei Wochen zur Unterschrift vorlegen wollte. Was optimistisch klingt: Denn den USA hatte man den Entwurf noch gar nicht gezeigt.
Und das, obwohl die USA im Vertrag eine der Schutzmächte hätte sein sollen – und im Falle eines erneuten Angriffs auf die Ukraine dazu verpflichtet hätte werden sollen, einzuschreiten.
Hier der ganze, äußerst lesenswerte Text in Foreign Affairs.