Rüge vom Presserat für den Standard
Der Presserat, ein Verein zur Selbstkontrolle österreichischer Medien, hat sein Urteil zum Fall Schilling getroffen. Der Standard hat in seiner Berichterstattung zum Fall Schilling gegen zwei Punkte des Ehrenkodex des Presserats verstoßen.
Im Gegensatz dazu erachtet es der Senat jedoch als problematisch, dass der Bericht zahlreiche weitere Passagen und (anonymisierte) Zitate enthält, die ausschließlich persönliche Wertungen und Meinungen zu Lena Schilling enthalten (u.a. „Vertrauen junger Menschen ausgenutzt“; „‘Verbrannte Erde‘ in Teilen der Klimabewegung“; „mehr als hinterfragenswerter Umgang mit jungen Menschen“).
Insgesamt entsteht bei den Leserinnen und Lesern der Eindruck, dass Lena Schilling einen mangelhaften Charakter und möglicherweise sogar an psychischen Problemen leiden könnte. Ein derartiger Vorwurf seitens eines Mediums ist auch gegenüber Politikerinnen und Politikern ungewöhnlich und wiegt unverhältnismäßig schwer. Überdies ist der (subtile) Vorwurf psychischer Defizite geeignet, das berufliche und soziale Fortkommen Schillings nachhaltig zu schädigen bzw. erheblich zu erschweren. Eine einseitige Herangehensweise des Mediums wird auch an der Stelle zum Rücktritt eines grünen Abgeordneten deutlich – hier wird suggeriert, dass Schilling irgendwie mitverantwortlich für die Handgreiflichkeiten gegenüber einem Journalisten gewesen sein könnte.
Nach Auffassung des Senats hätte es eine ausgewogene bzw. faire Vorgehensweise iSv. Punkt 2.1 des Ehrenkodex erfordert, die Meinungen und Werturteile mit konkreten Sachverhalten in Bezug zu bringen. Ohne die spezifischen Ereignisse, auf denen die Wertungen beruhen, können sich die Leserinnen und Leser kein umfassendes eigenes Bild machen. Zwar ergaben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Autoren des Artikels die Grundsätze einer sorgfältigen Recherche gezielt außer Acht lassen wollten. Dennoch wäre es nach Ansicht des Senats geboten gewesen, auf jene anonymisierten Zitate zu verzichten, die lediglich Werturteile zur Person Lena Schilling enthalten und in denen kein Kontext zu konkreten Ereignissen hergestellt wird.
Aufgrund der der zahlreichen veröffentlichten Sichtweisen über den mangelhaften Charakter Schillings kann der Senat auch keine ausreichende Äquidistanz zur Betroffenen und den anderen anonymisierten (politischen) Informantinnen und Informanten erkennen. Es liegt daher ein Verstoß gegen das Gebot einer gewissenhaften und korrekten Wiedergabe von Nachrichten vor (Punkt 2.1 des Ehrenkodex).
Zur Vielzahl der Personen, die Schillings Charakter ohne Angabe ihres Namens öffentlich kritisieren durften:
Eine Grenze ist […] dort erreicht, wo anonyme Zitate lediglich dazu dienen, den Charakter einer einzelnen Person in ein negatives Licht zu rücken, ohne dass dafür ein entsprechendes Tatsachensubstrat veröffentlicht wird.
Bei zahlreichen Zitaten des Artikels kann der Senat ein derartiges Tatsachensubstrat nicht erkennen: Seiner Meinung nach wäre es erforderlich gewesen, bloß über die konkreten und belegten Vorwürfe gegenüber Schilling zu berichten. Auf die anonymisierten Zitate, die ausschließlich den Zweck haben, nicht überprüfbare negative Wertungen über den Charakter der betroffenen Politikerin vorzunehmen, hätte das Medium hingegen verzichten müssen. Es liegt daher auch ein Verstoß gegen das Gebot einer gewissenhaften und korrekten Zitierweise vor (Punkt 2.2 des Ehrenkodex).
Ein strenges Urteil, das der Presserat so begründet:
Dem Senat ist bewusst, dass er mit seiner Entscheidung eine durchaus strenge medienethische Grenze zieht. Im Hinblick auf die Zulässigkeit anonymisierter Zitierungen gibt es in der bisherigen Entscheidungspraxis der Presseratssenate keinen vergleichbaren Fall. Der Senat hält diese Positionierung jedoch für angebracht, andernfalls wäre es möglich, in Artikeln oder Portraits von öffentlich bekannten Personen bloß eine Reihe von anonymisierten negativen Werturteilen wiederzugeben und damit die betroffene Person zu diskreditieren (anonyme „Heckenschützen“ hätten somit ein leichtes Spiel). Dem Senat ist es ein Anliegen, derartigen Entwicklungen entgegenzutreten – Informantinnen und Informanten sollen mit ihrem Namen dazu stehen, wenn sie bloß charakterliche Bewertungen auf einer persönlichen Ebene in die Öffentlichkeit tragen wollen. Dies gilt auch im Falle von Politikerinnen und Politikern.